Familie Strauß, 1895-2006

Am 22. Januar 2020 um 11 Uhr vormittags wird in der Galerie der Društvo likovnih stvaratelja, Ulica Franine i Jurine 11, HR-52000 Pazin, die Ausstellung mit meinen Radierungen nach den Familienfotos einer sehr guten Freundin eröffnet. Nada Putinja, Leiterin der Likovna Galerija, spricht einige Worte zur Begrüßung, und Iva Ciceran, die Leiterin der >Stadtbücherei, die zugleich die Schriftstellerresidenz Hiža od besid betreut (die ich zur Zeit dank eines Stipendiums des >Goethe-Instituts Zagreb wahrnehme), anschließend in einem Wechsel von Lesung und Gespräch mit mir die Bezüge zur Literatur und zum Übersetzen ausloten. Die Ausstellung ist bis einschließlich 29.1.2020 zu sehen, Mo-Fr 10-12 und 17-19 Uhr. Alles weitere am Mittwoch.

Hier folgt noch der Begleittext, den ich für die Ausstellung geschrieben habe; die Übersetzung ins Kroatische von >Edina Čović-Vučić findet sich in dem Blog-Eintrag >“Obitelj Strauss, 1895-2006″

Erinnerungen werden festgehalten. Fotografien von Angehörigen sollen ihr Andenken durch die Mühlen der Zeit retten. Gleichzeitig transportieren private Aufnahmen die Bedingungen ihrer Zeit: den Stand der Technik, den Zeitgeschmack, die historischen Umstände. Und sie sind einseitig: Auf Bildern stellen sich Familien positiv dar, ob das nun der Wirklichkeit entspricht oder schöner Schein ist. Schnell noch mal mit dem Kamm durch die Haare, eilig den Rock glattgestrichen, das Käppi keck in die Stirn gezogen, bevor der Auslöser klackt, und bitte recht freundlich. Auf Gruppenbildern herrscht Harmonie, denn es ist – auch wenn sich das hierarchische Gefälle im Lauf des letzten Jahrhunderts verändert hat – klar, wer im Mittelpunkt steht (oder, meistens, sitzt).

Für die Kamera eignen sich vor allem erfreuliche Anlässe; nur wenn die Geschichte oder das Leben der ganzen Familie oder einzelnen Mitgliedern allzu brachial auf den Leib rücken, kommen körperlicher Verfall, Tod und Ruinen mit aufs Bild. Krieg, Zerstörung, Schuld und Leid bleiben ausgeklammert. Die Familie posiert im Sonntagsstaat vor einem zerbombten Haus in der Nachbarschaft und lächelt ins Objektiv. Der Gefreite auf Fronturlaub gefällt sich in seiner Uniform. Nur dem Jugendlichen, der Mitte 1944 eingezogen wird, sitzt blanke Panik in den Augen. Und auf das Porträt seines älteren Bruders hat der Vater ein Kreuz gemalt und daneben ein Datum notiert.

Gruppenbild, Porträtaufnahme und dann auch Schnappschüsse anlässlich freudiger Ereignisse: Das sind die Genres der Familienalben. Sie sind merkwürdige Zwitter aus Erinnern und Vergessen, Traditionsbildung und Verdrängung, Stereotypie und Identitätsgrundlage. In gewisser Hinsicht bleiben sie ohne die ergänzende mündliche und/oder schriftliche Überlieferung von Namen und Daten, Lebensläufen und Charaktereigenschaften stumm. Und in anderer Hinsicht sprechen sie Bände, wenn sie eingehend betrachtet werden. Mit Fragen, die sich erst aus der Retrospektive stellen lassen. Das muss nicht mit Worten geschehen: Fotografien lassen sich beispielsweise in Radierungen übersetzen.

Wenn die eigene Mutter in die Demenz gleitet, geben vielleicht noch Fotos Auskunft über sie. Wenn eine Gesellschaft vergessen will, überwintert ihre Vergangenheit vielleicht in Bildern. Die Erinnerung ist ein Schatz, der immer neu gehoben sein will. Denn was festgehalten wird, verfestigt sich und verliert alles Lebendige, und was lebt, das vergeht. Ein Bild zeigt die junge Frau mit beiden Töchtern an derselben Stelle, an der diese sie viel später als alte Frau fotografieren.

Die Erinnerung selbst ist ein merkwürdiger Zwitter, denn sie ist der Dialog eines Menschenwesens mit der Vergangenheit, aus der es kommt, persönlich, familiär, gesellschaftlich und historisch. Die Erinnerung ist immer nur im Erinnern da und immer eine Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Alles fließt untrennbar ineinander, und doch destilliert jeder von uns daraus seine ganz persönliche, scharf von anderen geschiedene Identität.

Die Vorlagen zu den Grafiken in dieser Ausstellung stammen von einer guten, einer sehr guten Freundin. Ihre Familienfotos füllen fünf dicke Alben und reichen vom Ende des 19. bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Ab den 1960er Jahren reißen Diafilm, Digitalfotografie und die Tatsache, dass Fotografieren immer billiger wurde, mehr und mehr Lücken in die geordnete Dokumentation: Den größten Teil ihrer Hochzeitsfotos bewahrt meine Freundin in einem großen Umschlag auf, und das letzte Gruppenbild vor dem Tod des Stiefvaters ging beim Crash ihres letzten Mobiltelefons verloren.
Natürlich war kein Mitglied der Familie, die Weihnachten 2006 im elterlichen Wohnzimmer eine Art Selfie von sich machte, schon 1895 mit beim Fotografen gewesen, und nur zwei – meine Freundin und ihre Schwester – sind direkte Nachfahren des Clans auf dem ersten erhaltenen Gruppenbild: Die Frau zwischen den beiden knienden Jungen ist Theresia, ihre Urgroßmutter, der Mann dahinter der Urgroßvater, Max Strauß, und der jüngere der beiden Jungs ihr Großvater, Martin. Die Namen der anderen kennt sie nicht, und von der Familie ihrer Mutter existieren keine Fotos mehr.

Ich danke meiner Freundin für die Erlaubnis, ihre Familienfotos nutzen zu dürfen. So konnte ich in die Vergangenheit einer Familie eindringen, in die ich nicht selbst verstrickt bin, und bekam eine Freiheit beim Erinnerungs- Experiment geschenkt, die mir in Arbeiten nach eigenen Familienfotos verwehrt bleibt.